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Wenn Biologen und Psychologen aneinander
vorbeireden
Pressemeldung in PDF-Version
Bereits vor fast 100 Jahren berichteten Pioniere der Psychologie wie
Wolfgang Köhler, Robert Yerkes und Donald Hebb und auch der Physiologe und
Mediziner Ivan Pawlow von ausgeprägten individuellen Unterschieden im
Verhalten von Tieren, v.a. von Menschenaffen und Hunden. Doch damals
galten derartige Berichte als unwissenschaftlich und wurden als reine
Vermenschlichung abgetan. Zu übermächtig war die Vorstellung, nur allein
der Mensch könne Individualität entwickeln. In der Biologie wiederum
herrschte bis in die 1990er Jahre die Annahme, es gäbe in jeder Tierart
optimal angepasste Verhaltensweisen und alle Abweichungen davon seien rein
zufällig und folglich unbedeutend. Und das obwohl Charles Darwin bereits
1859 individuelle Unterschiede als entscheidende Voraussetzung für die
Evolution der Arten erkannte – sich dabei jedoch auf Körpermerkmale
konzentrierte.
In den 1990er Jahren setzte zeitgleich in Psychologie und
Biologie ein Umdenken ein. „Persönlichkeits“-Unterschiede wurden nun
zunehmend aus dem Blickwinkel der Evolution betrachtet. Die Forschung an
individuellen Unterschieden im Verhalten von Tieren wurde populär. Fast
schien es, als ginge es den Tierforschern nun gar schnell genug endlich zu
ergründen, was so lange als nicht existent beziehungsweise als nicht
erforschenswert galt. Die Zahl der Tierstudien stieg rasant an und mit ihr
die Zahl untersuchten Tierarten.
Doch die Unterschiedlichkeit der untersuchten Arten und vor allem der
Forschungsmethoden in Biologie und Psychologie führten zu erheblichen
Schwierigkeiten und einer verwirrenden Vielfalt an Begriffen und
Konzepten. Während in der Biologie der Fokus auf individuelle Unterschiede
und Individualität noch vergleichsweise neu war, wurden diese Themen in
der Psychologie schon seit über 100 Jahren erforscht. Bereits Francis
Galton, ein Verwandter Charles Darwins, entwickelte im 19. Jahrhundert
umfangreiche psychologische Forschungskonzepte und Analysemethoden.
Zwei zentrale Ansätze sind zu unterscheiden. Einerseits werden
individuelle Unterschiede in einer Bevölkerungsgruppe erforscht und
kategorisiert; dies ist Gegenstand der Differentiellen Psychologie – der
Psychologie der individuellen Unterschiede. Individuen können sich z.B.
hinsichtlich ihrer Ängstlichkeit, Geselligkeit und Aggressivität
voneinander unterscheiden. Diese Merkmalsunterschiede zwischen Individuen
kennzeichnen eine Bevölkerungsgruppe.
Doch individuelle Unterschiede sagen absolut nichts darüber aus, welche
spezifische Kombination an Merkmalsausprägungen nun für ein bestimmtes
Individuum typisch ist und dieses Individuum einzigartig macht. Diese
individual-spezifische Kombination wird „Persönlichkeit“ genannt; sie ist
bezogen auf die Person—das Individuum. Ein Individuum könnte im Vergleich
zu den anderen Individuen seiner Vergleichsgruppe z.B. sehr ängstlich, nur
mäßig gesellig und kaum aggressiv sein; ein anderes dagegen könnte wenig
ängstlich, wenig gesellig, dafür aber recht aggressiv sein. Zentral ist
der Fokus auf das Individuum.
In der Alltagssprache wird der Begriff
„Persönlichkeit“ fast ausschließlich in Bezug auf Individuen
verwendet; werden Individuen miteinander verglichen spricht man für
gewöhnlich von „Persönlichkeits“-Unterschieden. Doch in der
Wissenschaft verbreitete sich zusätzlich ein davon abweichender
Sprachgebrauch—wohl auch deshalb, weil die korrekte Benennung beider
Forschungsbereiche zu umständlichen Begriffen führt, im
deutschsprachigen Gebiet z.B. werden sie als Differentielle und
„Persönlichkeits“-Psychologie bezeichnet. Im englischsprachigen
Gebiet dagegen bezeichnet das Fach „personality“ psychology zumeist
beides, die Erforschung von Bevölkerungsgruppen und von einzelnen
Individuen.
All dies könnten Spitzfindigkeiten sein. Doch der ungenaue und
sprachlich vereinfachende Begriffsgebrauch der Psychologen führte zu
erheblichen Missverständnissen als Biologen in den 1990er Jahren
begannen, individuelle Unterschiede und „Persönlichkeit“ bei Tieren
zu untersuchen. In einer neuen Studie erforschte Jana Uher deshalb
die „Theorie hinter der Theorie“—in der Wissenschaft Meta-Theorie
genannt—und zeigte dabei auf, wo genau Missverständnisse zwischen
den verschiedenen Fachdisziplinen auftreten und wodurch sie
verursacht wurden.
In den letzten zwei Jahrzehnten konzentrierten sich die Tierforscher
zumeist auf individuelle Unterschiede, die im Verhalten bestimmter
Tierpopulation auftreten. Körpermerkmale wie Fellfarbe und
Körpergröße ändern sich nur vergleichsweise langsam. Daher können
individuelle Unterschiede direkt erkannt werden. Dagegen ändert sich
das Verhalten von Individuen von einem Augenblick zum nächsten.
Diese starken Schwankungen machen es fast unmöglich, individuelle
Unterschiede direkt zu erkennen. Jana Uher zeigte auf, dass ein
Verhaltensmuster nur dann spezifisch für ein Individuum sein kann,
wenn es sich von anderen Individuen unterscheidet und zwar nicht nur
einmal, sondern immer wieder in ähnlicher Weise—es muss also relativ
stabil über zumindest einige Zeit sein.
Jeder Tierbesitzer kennt das. Eine einzige Beobachtung
sagt noch nicht viel darüber aus, wie sich ein Individuum typischerweise
verhält—es könnte gerade erschreckt, müde, hungrig oder krank sein. Bei
der Auswahl eines neuen Haustieres empfiehlt es sich daher immer, den
potentiellen neuen Hausgenossen bei unterschiedlichen Gelegenheiten zu
beobachten und dessen gewohnheitsmäßiges Verhalten beim Züchter oder
Vorbesitzer zu erfragen. Auch hier ist ganz deutlich: Die Tatsache, dass
es bei Hunden, Katzen, Pferden und anderen Tieren individuelle
Unterschiede im Verhalten gegenüber Menschen und Artgenossen gibt sagt
rein gar nichts darüber aus, mit was für einem Individuum man es gerade zu
tun hat. Entscheidend dafür ist die individuelle Kombination an typischen
Verhaltenstendenzen, die ein Individuum im Vergleich zu anderen immer
wieder zeigt—seine „Persönlichkeit“.
Durch die großen Schwankungen im Verhalten von Individuen kommt es in
Verhaltensdaten praktisch immer zu individuellen Unterschieden, die rein
zufällig entstehen. Ob es sich dabei tatsächlich um
„Persönlichkeits“-Unterschiede handelt, kann nur durch erneute Messungen
an denselben Individuen ermittelt werden: Die individuellen Unterschiede
müssen nach einiger Zeit in ähnlicher Weise wieder auftreten. Genau an
diesem Punkt wird es schwierig: Wie stabil müssen individuelle
Unterschiede sein, um von „Persönlichkeits“-Unterschieden zu sprechen?
Schließlich verändern sich Individuen im Laufe ihres Lebens auch und ihre
„Persönlichkeit“ entwickelt sich.
Um „Persönlichkeits“-Unterschiede von Zufallsschwankungen
abzugrenzen, müssen in der Psychologie ausgeprägte Stabilitäten über
einige Wochen und Monate nachgewiesen werden. Dagegen berichten viele
Tierstudien von nur schwachen bis teils mäßigen Stabilitäten selbst über
nur kurze Zeit, interpretieren diese Befunde dennoch als Nachweis von
Tier-„Persönlichkeiten“. Zudem werden meist nur individuelle Unterschiede
untersucht. Stabile individuelle Kombinationen von Verhaltensmerkmalen,
die das Konzept der „Persönlichkeit“ eigentlich beschreibt, wurden bei
Tieren bisher kaum untersucht.
„Es ist schon kurios: Früher wurden in der Tierforschung
individuelle Unterschiede als rein zufällig abgetan, heute interpretieren
Tierforscher Zufallsschwankungen als evolutionär bedeutsame individuelle
Unterschiede“, so Jana Uher. Sie warnt vor übereiligen Schlüssen.
„Derartig dramatische Änderungen in der Interpretation von
Forschungsergebnissen sind immer erklärungsbedürftig. Sie zeigen, dass es
immer die Sicht der Forscher ist, die darüber entscheidet, welche
Phänomene als erklärungswürdig betrachtet werden und welche nicht.“
Jana Uher deckte auch fundamentale Unterschiede in der Art der
Stabilitätsanalyse auf. So berichten Tierforscher häufig Zusammenhänge
zwischen verschiedenen Verhaltensweisen, die in einer untersuchten
Tierpopulation in ähnlicher Weise auch zu späteren Zeitpunkten wieder
auftreten; Biologen nennen dies Verhaltenssyndrome. Doch zur
Identifikation von „Persönlichkeits“-Unterschieden entscheidend sind die
individuellen Unterschiede und deren Stabilität über die Zeit. Denn wohl
alle Individuen einer Art werden, wenn sie hungrig sind, mehr
Fressverhalten zeigen und dabei auch mehr Risiken eingehen als wenn sie
gerade nicht hungrig sind. Allein diese Tatsache führt zu zeitlich
stabilen Zusammenhängen von Fress- und Risikoverhalten, die aber nichts
mit stabilen Unterschieden zwischen Individuen zu tun haben. Solche
Befunde belegen nicht, dass es in einer Tierart Individuen gibt, die immer
wieder mehr Risiken als andere eingehen oder die häufiger als andere
fressen.
Was also ist dran an der „Persönlichkeit“ von Tieren? Jana Uher vermutet,
dass viele Unterschiede zwischen der biologischen und psychologischen
Tierforschung von Unterschieden zwischen untersuchten Tierarten herrühren.
Die meisten Psychologen erforschen nur Menschen und die wenigen
psychologischen Tierforscher konzentrieren sich oft auf die nächsten
Verwandten des Menschen, die nichtmenschlichen Primaten. Biologen dagegen
untersuchen fast nie Menschen, dafür aber alle Tierarten. Die Forscherin
vermutet, dass bei Primaten und anderen Säugetieren eine Vielzahl stabiler
individueller Unterschiede und individueller Kombinationen von
Verhaltensmerkmalen auftreten, während diese bei Fischen und Insekten
wahrscheinlich wesentlich weniger ausgeprägt sind. Deshalb könnten die
Befunde—und damit auch die Konzepte—der Disziplinen zwangsläufig
unterschiedlich sein.
Doch Jana Uher betont :“Erst die Forschung kann zeigen,
welche Tierarten welche individuellen Unterschiede aufweisen, die als
individuelle Verhaltensstrategien für die Evolution der Arten bedeutsam
sein könnten“. So zeigen methodisch hervorragende Studien aus Australien,
dass auch Tintenfische stabile individuelle Verhaltensunterschiede zeigen.
Auch viele Hundestudien belegen, was Hundebesitzer schon lange wissen: die
Kombination individueller Verhaltensmerkmale ist nicht jeden Tag völlig
anders und rein zufällig, sondern charakterisiert ein Individuum über
zumindest einige Zeit. In Studien mit Menschenaffen hat Jana Uher gezeigt,
wie einerseits stabile individuelle Verhaltensunterschiede und
andererseits stabile, aber individuell unterschiedliche Kombinationen von
Verhaltenmerkmalen in „Persönlichkeits“-Profilen gemessen werden können
(siehe Science Blog "Keiner wie der
Andere - 'Persönlichkeits“-Unterschiede' bei Großen Menschenaffen")
Die Forscherin mahnt: „Die für ‚Persönlichkeits’-Studien notwendige
Methodik ist etwas kniffliger als die in anderen Forschungsbereichen. Dies
wird von vielen Tierforschern bislang noch zu wenig beachtet. Tierforscher
müssen mehr in die Forschungsmethodik investieren, ansonsten besteht die
Gefahr, dass Theorien zur Bedeutung und Evolution von
‚Persönlichkeits’-Unterschieden auf der Grundlage von Methodenfehlern
entwickelt werden.“
Wissenschaftliche Publikation:
Uher, J. (2011a). Individual behavioral phenotypes:
An integrative meta-theoretical framework. Why 'behavioral
syndromes' are not analogues of 'personality'. Developmental
Psychobiology, 53, 521–548. https://doi.org/10.1002/dev.20544
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[Highlights]
Letzte Aktualisierung 02.02.2014
Keywords: Persönlichkeitseigenschaften, Verhaltenstypen,
Dispositionen, Responsivität, individuelle Unterschiede,
Tierpersönlichkeiten, Persönlichkeitsunterschiede, Individualität,
Persönlichkeitsfaktoren, Verhaltensstile, Persönlichkeit,
Verhaltensprofile, Temperament, Coping-Stil, Verhaltensstrategie,
korrelierte Eigenschaften, Reaktivität, Verhaltenssyndrome.
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